Von der Koppel zur Kapriole
Die Ausbildung der Hengste, die in einem Alter von ungefähr vier Jahren vom Lipizzanergestüt Piber in das Trainingszentrum Heldenberg und nach Wien übersiedeln, erfolgt nach den Lehren der klassischen Reitkunst und ist in ihren Grundzügen nach den Directiven von Exzellenz Holbein und Oberbereiter Franz Meixner gestaltet. Das vorrangige Ziel dieser Ausbildung unterscheidet sich grundsätzlich nicht von jeder anderen Pferdeausbildung und lässt sich mit den Zielen der Geschmeidigkeit, Gehorsamkeit, Durchlässigkeit und Ruhe umreißen.
Die Aufgabe der klassischen Reitkunst ist es, die natürlichen Bewegungsveranlagungen des Pferdes zu studieren und durch systematisches Training in der dem Pferd höchstmöglichen Eleganz der Hohen Schule zu kultivieren. Bei der Ausbildung stehen Mensch und Pferd zu jeder Zeit auf Augenhöhe und das Pferd bestimmt, wann es bereit ist, die nächste Lektion zu erlernen. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise ist eine unvergleichliche Harmonie zwischen Reiter und Hengst, wie sie heute nur mehr in der Spanischen Hofreitschule zu Wien erreicht wird.
Lipizzaner sind für diese Aufgabe besonders geeignet: Sie sind nicht nur genügsam, kräftig und für die klassische Reitkunst besonders begabt, sondern auch überaus gelehrig und verfügen über ein außerordentlich gutes Gedächtnis – alles Eigenschaften, die der Ausbilder kennen und für die gemeinsame Arbeit nutzen muss.
Der Ablauf der Ausbildung
1. Die Remontenschule: Im ersten Jahr erfolgt die so genannte Remontenausbildung, das Reiten mit möglichst natürlicher Haltung des Pferdes in nicht versammelten Gangarten auf der Geraden.
2. Die Campagneschule: Das Reiten des versammelten Pferdes in allen Gangarten; Wendung und Touren in vollkommenem Gleichgewicht.
3. Die Hohe Schule: In dieser Ausbildungsstufe bringt der Bereiter sein Pferd zur Perfektion. Was nun folgt, richtet sich nach der besonderen Eignung, Begabung, Kraft und Sensibilität des jeweiligen Hengstes und nach dem, was der Hengst anbietet. In höchster Versammlung lernt der Hengst Piaffe, Passage, Galopp-Pirouetten und Galoppwechsel von Sprung zu Sprung.
Es dauert durchschnittlich sechs Jahre bis ein Hengst in der Schulquadrille eingesetzt werden kann und damit seine Ausbildung zum Schulhengst beendet hat. Die berühmten Schulsprünge der „Schulen über der Erde“ – Levade, Courbette und Kapriole – beherrschen nur wenige, besonders talentierte und sensible Hengste.